Santiago, an einem Montagabend in der U-Bahn: Während sich ein junges Pärchen in Schuluniform auf einer Bank ineinander verschlungen küsst, wirkt der unfreiwillige Körperkontakt mit den Nachbarn in der U-Bahn bei etwa 30 Grad und mangelndem Sauerstoff deutlich unangenehmer. Santiagos U-Bahn ist immer noch völlig überfüllt. Das Projekt „Transantiago“, die ehrgeizige Reform des öffentlichen Verkehr in Chiles Hauptstadt mit 200 Kilometern Busverbindungen und Abstimmung auf die U-Bahn, wurde zum weltweiten Negativbeispiel für Verkehrsplanung. „Ich würde den 10. Februar 2007 am liebsten aus meinem Kalender streichen“, gab Bachelet in einem Interview mit der chilenischen Tageszeitung Mercurio zu. Viel zu früh wurde Transantiago eröffnet – und floppte katastrophal: Endlose Warteschlangen vor den Kassenautomaten und den Ticketkontrollstellen, häufigeres Umsteigen als zuvor und die Flucht von den Bussen („Micros“) in die bereits überfüllte U-Bahn waren die Folge. Neue Verträge mit privaten Busfirmen brachten Verbesserungen, doch nach wie vor ist das Micro-Netz unüberschaubar und eine Bushaltestelle leicht an der wartenden Menschentraube erkennbar. Die Beliebtheit Bachelets litt massiv unter dem Transantiago-Chaos, das allerdings zum Teil auch von der Regierung ihres Vorgängers Ricardo Lagos verursacht wurde. Bachelets Popularitätswerte gingen im letzten Jahr von 50 auf 39% Zustimmung zurück.
Mit 53,3 Prozent der gültigen Stimmen gewann die 54-jährige Kinderärztin die Wahlen Mitte Jänner 2006 – und wurde damit die erste Frau an der Spitze eines lateinamerikanischen Staates. Machismo und Katholizismus prägen das Land noch immer, obwohl es nun seit zwei Jahren von der zwei Mal geschiedenen Agnostikerin Bachelet regiert wird. Mit ihrer persönlichen Biographie – der Vater ein hoher Offizier, von der Militärdiktatur ermordet, sie selbst inhaftiert und lange Jahre im Exil in der DDR – ist die Sozialistin ein Symbol für die Überwindung der dramatischen Zeit der Diktatur – und vor allem für die Hoffnung auf Veränderungen in Chile.
Veränderungen, die vor allem auf sozialer Ebene gebraucht werden: eine Verringerung der sozialen Gegensätze, gute und leistbare Ausbildung für alle, Verbesserung der sozialen Sicherheit, Ausbau der Kinderbetreuung.
Chile gilt heute als Musterbeispiel Südamerikas für wirtschaftliche und politische Stabilität. Wenig Korruption, niedrige Arbeitslosenrate (7,3%) und eine geringe Inflation (zwischen 2 und 4%) zeichnen das Exportland aus. Kupfer stellt mit 42% weiterhin den Hauptanteil an den Ausfuhren. Um eventuelle Preisschwankungen oder Krisen zu kompensieren, wurde in letzter Zeit auch der Export von Wein, Zellulose, Fisch und Früchten intensiviert. Eine Diversifikation fand auch bei den Importländern statt: Um die Abhängigkeit von den USA zu verringern, wird mittlerweile nach Europa und Asien exportiert. Die Devise ist dabei klar: „Wir sind wie die Ameisen, wir sparen in guten Zeiten und investieren in schlechten“, so Sebastian Bustos von der Wirtschaftsfakultät der Universidad de Chile. Antizyklische Konjunkturpolitik schützte das Land vor Krisen und ließ die chilenische Wirtschaft die steigenden Preise von Grundnahrungsmitteln wie Milch und den damit verbundenen Inflationsschock kaum spüren.
Der Kampf gegen die Armut nach dem Ende der Pinochet-Ära kann als erfolgreich betrachtet werden. Zur Zeit der Militärdiktatur gab es 40 Prozent Arme – wer ein Dach über dem Kopf hatte und ein Wohnzimmer für die ganze Familie, konnte sich bereits glücklich schätzen. Viele lebten nur in Hüttensiedlungen aus Lehm. Heute befinden sich nur mehr 13 Prozent der Bevölkerung Chiles unter der Armutsgrenze, das jährliche Einkommen beträgt durchschnittlich 12.000 US-Dollar – zum Ende der Diktatur 1990 waren es nur 2.000 Dollar.
Doch viele ChilenInnen sind hoch verschuldet – bis zu fünf Mal höher als ihr Monatseinkommen. 75% der erwachsenen Bevölkerung besitzen zwar ein Haus oder eine Wohnung, doch nur um den Preis hoher Kredite. An jeder Straßenecke werben strahlende Kinderaugen, lachende Jungen beim Fußballspielen oder glückliche Pärchen für Banken und Kreditinstitute. Ob die eigene Wohnung, oder auch nur ein Urlaub – der Traum wird mit einem Kredit erfüllt. „Wer in dieser Situation arbeitslos wird, kann sich sein tägliches Leben und den Kredit nicht mehr leisten – und verliert sein Dach über dem Kopf“, so Hernan Rodríguez Fisse vom Institut für Politikwissenschaft an der Hauptuniversität in Santiago.
Die Einkommensschere geht immer weiter auseinander. Der Gini-Koeffizient*) zeigt dieses ungleiche Verteilung des Vermögens: Mit Werten zwischen 0,55 – 0,59 (je näher bei 1, desto größer die Ungleichheit) zählt Chile zu den Schlusslichtern Südamerikas; weltweit weisen nur afrikanische Länder schlechtere Zahlen auf.
Wer heute durch Santiago de Chile geht, findet an den Häuserwänden immer wieder revolutionäre Graffiti und Sprüche – und daneben Straßenhändler, die von Socken über Pflaster bis zu Lippenstiften alles anbieten, und die typisch chilenischen Trommlerjungen.
„Cuidate! – Pass auf!“ bekommen AusländerInnen immer wieder zu hören. Diebstähle und Raubüberfälle belasten das Image Santiagos als sichere Hauptstadt.
Am Campus der Universidad de Chile sitzen viele StudentInnen in der Wiese, um zu lesen, zu plaudern oder vor dem riesigen Wandporträt von Che Guevara Gitarre zu spielen. „Das ist noch von den Studentenprotesten vom letzten Jahr“, erklärt eine Studentin. Sie gehört zu jenen privilegierten jungen Menschen, die voraussichtlich einen Job finden werden und eine Zukunft vor sich haben. Denn strenge Auswahlverfahren und eine teure Ausbildung zeichnen die Laufbahn schon in der Schule vor: Wer eine private und teure Schule besuchen kann, wird studieren und später auch entsprechend Geld verdienen.
Im Frühjahr 2007 gingen die StudentInnen Chiles auf die Straße: Mehr Gerechtigkeit, mehr Qualität in der Ausbildung und keine Selektionsprozesse waren die Forderungen. Die bestehenden Gesetze wurden in der Pinochet-Ära erlassen – fast jeder durfte damals eine Schule eröffnen. Zwischen privaten und öffentlichen Schulen besteht jedoch ein großes Qualitätsgefälle. Jetzt sollen mehr Schulen wieder vom Staat oder von gemeinnützigen Organisationen geführt, ihr Niveau verbessert und die Auswahlprozesse reduziert werden. Doch die entsprechenden Reformen befinden sich noch in Ausarbeitung; im Regierungsplan waren sie nicht vorgesehen.
Angekündigt und durchgeführt wurde aber die Pensionsreform. Unter der Diktatur wurde 1981 das Pensionssystem radikal privatisiert, d.h. auf private Fonds umgestellt; nur Militär und Polizei nahmen sich selbst von ihrer eigenen Reform aus. Zur Vermeidung von Altersarmut garantiert der Staat ab 2008 eine Mindestpension für Menschen, die nicht genügend vorsorgen konnten. Diese Grundsicherung beträgt heuer umgerechnet ca. 100 US-Dollar und ab nächstem Jahr bis zu 120 Dollar. „Das kommt vor allem Frauen zu gute, die bei den Kindern daheim geblieben sind und kein eigenes Einkommen haben“, erklärt der Politologe Rodríguez Fisse.
Der von Bachelet initiierte Ausbau der Kinderbetreuung soll mehr Frauen den Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglichen. Nur etwa 30% der chilenischen Frauen sind erwerbstätig – der Großteil ist als Hausfrauen und Mütter zu Hause. Viele Mütter sind Alleinerzieherinnen: Neben dem Erhalt der Familie und der Arbeit als Hausfrau bzw. Mutter bleibt da keine Zeit für Politik.
Probleme hatte Bachelet mit dem Frauenanteil in ihrer Regierung. Das erste Kabinett wurde wie versprochen genau geschlechtsparitätisch mit zehn Ministerinnen und zehn Ministern besetzt – Frauen erhielten Ressorts wie das Wirtschafts-, Gesundheits- und Verteidigungsministerium. Doch innerhalb der vergangenen zwei Jahre gab es bereits drei Kabinettswechsel, mit dem Ergebnis, dass von den 20 Ministerien nur mehr sechs von Frauen geleitet werden. Im Parlament sind überhaupt nur 7% der Sitze mit Frauen besetzt.
Frau sein wird in Chile immer noch mit Mutterschaft gleichgesetzt. „Bachelet platzierte sich in ihrer Kampagne als ‚Mama de Chile‘ – weiß gekleidet, eigentlich Ärztin, Mutter, Tochter eines Mannes, der bei der Folter starb. Sie vereinigt alle positiven Eigenschaften einer Frau in Chile“, erklärt die Anthropologin Carolina Ranche vom Zentrum für interdisziplinäre Gender Studien. Auf der anderen Seite werde ihr deshalb vorgeworfen, nicht „die Hosen anzuhaben“, zu wenig Macht und zu wenig Autorität auszuüben. Denn der Machismo ist in Chile allgegenwärtig – und wenn etwas wie beim Projekt Transantiago schief geht, dann „wird das gleich auf das Geschlecht zurückgeführt und bewirkt einen größeren Imageschaden als bei einem Mann“.
Der katholischen Kirche und dem Papst kommt in Chile noch immer eine wichtige Rolle zu. Trotz der Gesetze, die sowohl die Pille als auch seit Bachelet die „Pille danach“ legalisieren, ist es fast unmöglich, sie tatsächlich in den Apotheken zu bekommen. Apotheken sind private Unternehmen, die meist konservativen Männern gehören. „Sie besitzen dadurch Macht über meinen Körper und meine Fortpflanzung – das kommt einer Enteignung gleich. Nicht die Regierung, die ich gewählt habe, übt die Macht aus, sondern die Privatwirtschaft und die Kirche“, schildert Ranche die derzeitige Situation. Abtreibungen sind in Chile nach wie vor illegal.
Der offene Machismo auf der Straße mit ständigen Nachrufen oder Anstarren wird weitgehend toleriert, Gewalt gegen Frauen ist nach wie vor ein großes Thema. „Ich halte die Reformen von Bachelet für die Frauen für sehr wichtig und gut, aber bezweifle, dass sie an der richtigen Stelle ansetzen“, meint die Wissenschafterin.
Zwei weitere schwierige Jahre stehen Michelle Bachelet noch bevor – denn das Desaster Transantiago überschattet ihre Regierungszeit und lässt die für Chile so wichtigen sozialen Reformen in den Augen des Volkes verblassen. Eine unmittelbare Wiederwahl ist laut Verfassung nicht möglich. Michelle Bachelet ist sich jedoch sicher, dass die Chileninnen und Chilenen unabhängig vom Geschlecht „jene Person wählen werden, an die sie wegen ihrer Laufbahn und ihrer Ehrlichkeit glauben“.
*) Der Gini-Koeffizient oder auch Gini-Index ist ein statistisches Maß, das vom italienischen Statistiker Corrado Gini zur Darstellung von Ungleichverteilungen entwickelt wurde. Er wird besonders in der Wohlfahrtsökonomie verwendet.